Wolfgang Fleischer: Das verleugnete Leben. Wien: Kremayr & Scheriau 1996.
Beim Wiederlesen der Besprechung von "Monsieur Proust" wird klar: Schriftstellerleben haben, bei aller selbstverständlichen Unterschiedlichkeit der äußeren Bedingungen, ein Vergleichbares, Ähnliches. Hingabe an das Werk, eine Monomanie des geschriebenen Worts, welche die Literatur über das Leben erhebt und letzterem eine bloß dienende Rolle zuweist. So leidet die Umgebung, so leidet aber meist in noch viel größerem Maße der Dichter selbst: Indem er sein ureigenstes Leben verleugnet und zum Opfer bringt auf dem Altare einer immer zweifelhaften Kunst und eines ebenso fragwürdigen Nachruhms.
Dass es bei Lebensbeschreibungen Riffe und Untiefen zu umschiffen gilt, dass es einen Weg zu finden gilt zwischen Werkinterpretation und persönlicher Eitelkeit des Beschreibenden, fand hier schon des öfteren Erwähnung. Wenn es aber gälte, ein Musterbeispiel für eine gelungene Biographie zu präsentieren, so wäre man mit Fleischers Werk fündig geworden. Kenntnis- und umfangreich, sich aber nie in Einzelheiten verlierend, immer das Ganze und somit den Autor im Blick, leicht lesbar und doch auf eindringliche Weise beschreibend, gerät Fleischer dieses Werk zu einem großartigen und mitreißenden Buch, in welches man - je länger je mehr - zu versinken meint. Natürlich mag man seinen Ausführungen nicht in allem beizupflichten, wäre es z. B. empfehlenswert, das etwas sperrige Vorwort als Nachwort zu konzipieren (v. a. weil das dort Geäußerte erst nach Kenntnis des Lebens wirklich verständlich wird), auch könnte auf einige leicht polemisch anmutende Textpassagen verzichtet werden - aber ingesamt ist diese Biographie schlicht als vorbildhaft für dieses Genre zu betrachten.
Trotz aller Detailfülle bleibt die Darstellung ein Ganzes, in sich geschlossen und von einem zum anderen überleitend. Nirgendwo verstellt unkritische Bewunderung den Blick - im Gegenteil: Manchmal scheint Fleischer mit dem Dichter zu hart zu verfahren, wenngleich er (fast?) nie den objektiven Boden seiner Beschreibung verlässt. Und auch der Titel ist hervorragend gewählt: Ein "verleugnetes" Leben, ein Sich-Verstecken, Nicht-Zugeben-Wollen, ein Verdrängen der Wirklichkeit zugungsten eines geschönten Künstlerdaseins; ein Mann, der sich mit ungeheurer Konsequenz seinem eigenen Tun und Sein zu entziehen verstand und in seinem Schreiben die Lossprechung für alle begangenen Taten und Untaten sehen wollte.
Doderer gehört zur Generation meiner Großväter: Die beide Kriege erlebten, Hungersnöte, den Zusammenbruch von tausendjährigen Reichen und fast ebenso lang währenden Monarchien. Aber natürlich in völlig verschiedenen Schichten geboren, denn Heimito ist der Jüngste einer reichen großbürgerlichen, im 19. Jahrhundert geadelten Familie, der erst den Niedergang eines - für ihn - fast heimelig anmutenden Kaiserreiches erlebte, und nach oder schon während des zweiten Weltkrieges seines einzigen, außerkünstlerischen und politisch-historischen Engagements verlustig ging: Des Dritten Reiches. Aber den für ihn wichtigsten Entschluss fasst er noch in sibirischer Gefangenschaft während des 1. Weltkrieges: Schriftsteller werden zu wollen, nichts anderes, vielleicht auch durch die Erkenntnis bedingt, seinem übermächtigen Vater als "normaler", ins Wirtschaftsleben integrierter Sohn, niemals ebenbürtig, ja nicht einmal hilfreich sein zu können.
Doderers eigentümliche Philosophie (besser Metaphysik) speist sich aus dubiosen Quellen: Weiningers "Geschlecht und Charakter", Hermann Swobodas Periodizität des menschlichen Organismus (nach dem "freisteigende" Erinnerung bei Frauen in 28, bei Männer in 23 Zeiteinheiten zu beobachten sind, was Doderer häufig als Beleg für bestimmte Assoziationen, aber auch als unschuldigen Grund des Vergessens vieler Ereignisse betrachtet - diesen war dann schlicht das periodische Auftauchen versagt), dazu noch Spenglers prophetische Geschichtskunde vom Untergang des Abendlandes und die mehr als dubiose "Welteislehre" Hörbigers, an welcher auch Hitler großen Gefallen fand. Aus dem allen entstand unter dem Einfluss des "Meisters" Gütersloh eine fatalistische Weltsicht, welche sowohl als Grundlage für seine Romane, noch wichtiger aber als - spätes - Erklärungsmodell für sein Leben diente.
Befremdlich erscheint solches bei einem Autor mit einem derart scharfen, fast sezierenden Blick für menschliche Eigenheiten und Schwächen. Die Intensität der Beschreibungen, die Präzision der Metaphern, das Erzeugen von tief beeindruckenden Stimmungsbildern - all diese herausragenden dodererschen Fähigkeit, die seine Romane zu einem außergewöhnlichen Genuss werden lassen, bleiben zum Glück von diesem lebens- und literaturtheoretischen Brimborium fast unberührt. Wenngleich ich nun weiß, woraus sich in manchen seiner Romane mein Unbehagen speiste: Wenn ich etwa beim "Mord, den jeder begeht" über die fast penetrant wirkenden Zufälle hinweglas und ohne der eigentlichen Handlung allzuviel Aufmerksamkeit zu schenken, von Beschreibung zu Beschreibung, Metapher zu Metapher voranschritt. Was ich jedoch als Schwäche des Romans betrachtete, war ihm Theorie: Gerade die unwahrscheinlichen, mich verstörenden Zufälle (derer es auch in seinen anderen Romanen nicht wenige gibt) waren beabsichtigt und vom fatalogischem Gedankentum getragen in der Form, dass man eben seinem Schicksal nicht entkommen könne. Spengler auf einer individuellen Ebene.
Aber das wirklich Fatale, weil die Qualität der Bücher ja kaum beeinflussende, ist eben nicht die romantheoretische Ausprägung dieser Ansichten, sondern die Tatsache, dass er seine Ideen auch auf sein Leben bezog. Und zwei Wirklichkeiten statuierte: Eine erste (die wahre und einzige, die dem des Künstlers entspricht, der nur seiner Kunst zu leben hat) - und eine zweite, außen sich befindliche, die zufällig und austauschbar ist und nur der ersten Wirklichkeit dienstbar sein sollte. Dieses Ausblenden von Faktischem nutzte er zwiefach: Zum einen log er seine eigene (nationalsozialistische) Vergangenheit um (und für einen Fatalisten stellt sich der Determination wegen ohnehin keine Schuldfrage); zum anderen war sie auch nichtig, musste hinter seinem Künstlertum zurückstehen. Diese Vorgangsweise bezog sich aber nicht nur auf politische Dummheiten, sondern wurde, nicht unerheblich zu seiner Altersverbitterung beitragend, auch zum persönlichen Lebensmotto. Nichts war von Bedeutung außer der Kunst, auch die eigenen, oftmals wohl verdrängten oder verschütteten Wünsche waren sekundär, der zweiten Wirklichkeit angehörend. Tragisch und anrührend beschreibt Fleischer eine solche Verdrängung, wenn er Doderer voll Bewunderung vor einer Auslage mit Kinderschuhen beschreibt, plötzlich dessen tränende Augen sehend.
Ob solches sich geändert hätte, wenn er nicht bis über sein 50. Lebensjahr hinaus ein gänzlich erfolg- und mittelloser Schriftsteller geblieben wäre, lässt sich natürlich nur vermuten. Aber dieser langgehegte Groll, das Verkanntsein, das tief verwurzelte Gefühl des Verfolgtwerdens treibt ihn zum einen zu einer ungeheuren Disziplin des Schreibens (auf der Suche nach Erfolg), zum anderen in eine verbohrte Bitternis, die auch mit der ungeheuren Anerkennung der letzten 15 Jahre kaum noch von ihm abfällt. Dennoch versöhnten (wie so oft) mich die letzten, schon von Krankheit gezeichneten Lebensjahre mit dem Autor, der dann Eigenschaften wie Großzügigkeit und Loyalität auch gegenüber ungeliebten Schriftstellerkollegen an den Tag legt. Wenn auch Unbegreifliches zurückbleibt: Etwa seine Weigerung, eine Unterschrift für seine damals schon lang getrennte lebende, jüdische Frau zu leisten, die ihr die Ausreise in die U.S.A. im Jahre 1938 ermöglicht hätte - und die er durch seine Haltung (er wollte die Scheidung erzwingen) der Gefahr der Verhaftung aussetzte. Solches aber betrachtete er im Nachhinein als der zweiten Wirklichkeit zugehörig - und damit war's bedeutungslos.
Ein verleugnetes, stilisiertes, sich selbst erfindendes Leben. Irgendwann im Laufe der Neuerfindung der eigenen Vergangenheit, der theoretischen Vorstellung von der eigenen Zukunft ohne Rücksicht darauf, dass diese Zukunft immer auch ein Mensch erleben wird, glaubt man das Erfundene, glaubt auch an die eigenen Philosophie. Zurück bleibt jemand, der sich selbst vergewaltigt, unglücklich mit sich und seiner Umwelt. Denn zu dieser lassen sich aufgrund der eigenen Position nur abhängige Beziehungen aufbauen: Man hat Bewunderer oder aber lebt distanz- und respektvoll nebeneinander her. Beziehungslos. Ein solcher, unauthentischer Mensch muss auch sich selbst überzeugen können: Nur wenn er an das eigenen Lügengebäude glaubt, entgeht er dem "großen Grimm", Fusswinkel > 120 Grad. Doderer dürfte nicht dumm genug gewesen sein an sein Selbsterfundenes zu glauben, auch wenn seine theoretischen Bemühungen diesbezüglich enorm waren. Unabhängig aber von all dem, worin man ihm folgen oder seine Zustimmung verweigern kann: Die Darstellung dieses Lebens ist beispielhaft, nicht bloß für Literaturliebhaber sondern auch für kulturgeschichtlich Interessierte. Der Umfang sollte nicht abschrecken - im Gegenteil: Gute Bücher können nicht dick genug sein.